Homberg unterm Hakenkreuz: Unterschied zwischen den Versionen
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=== Juden in Homberg vor 1900 === | === Juden in Homberg vor 1900 === | ||
==== Von der Regulierung zur Emanzipation ==== | ==== Von der Regulierung zur Emanzipation ==== | ||
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+ | Den bis dato ersten Hinweis über frühe Juden in Homberg gibt es als Anmerkung im „Verwaltungsbericht Homberg - Niederrhein 1901 bis 1909“ (4): | ||
+ | Dort heißt es: „Für eine gewisse Bedeutung von Homberg spricht auch die Ansiedlung von Juden, schon im 16. Jahrhundert.“ | ||
+ | Aus der Grafenstadt Moers wird von einem konkreten Fall berichtet: | ||
+ | „Bereits 1613 hatte die Stadt Moers bei einem jüdischen Mann Geld geliehen, das zur Befestigung der Stadt verwandt wurde.“ (5) | ||
+ | Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 war wohl der Religionsfrieden zwischen Protestanten und Katholiken besiegelt worden, jedoch wurde keine einvernehmliche Haltung gegenüber den Juden in Deutschland vereinbart. Die Juden wurden den Landesfürsten unterstellt, die mit oft sehr unterschiedlichen „Judenordnungen“ (Regulierungen) das Zusammenleben in der Stadt und auf dem Land regelten. Dabei war den Landesfürsten der Aspekt der Emanzipation und Integration der Juden in die heimische Gemeinschaft eher fremd. Vielmehr ließen sich weltliche und geistliche Herren, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, davon leiten, ihre fiskalischen Interessen durchzusetzen, indem sie von den Juden den Kauf von immer neuen „Geleitrechten“ (Schutzrechten) verlangten. | ||
+ | Die Regulierungen der Landesherren griffen tief in die private Sphäre der Juden ein. Üblich waren Bestimmungen wie: Wahl der Niederlassung, Höhe des Eigenkapitals, Verbot des Erwerbs von Liegenschaften, Zahl der Kinder und vor allem starke Beschränkungen für das Erwerbsleben als Landwirt (Ackerbau), beim Handwerk und im Hausierhandel. (6) (lies 6a) | ||
+ | Für die Grafschaft Moers gibt es diesbezüglich folgenden Bericht: (7) | ||
+ | „In einem Reglement von 1678 wurde die Zahl der Juden strikt begrenzt. Es hieß, daß nicht mehr als sechs Juden in der Grafschaft Moers leben durften. Von diesen sechs Juden sollten drei in Moers, einer in Krefeld und zwei in Friemersheim und Budberg wohnen. Wenn einer starb, wurde nur ein relativ vermögender Jude an dessen Stelle zugelassen. In beruflicher Hinsicht erlaubte die Obrigkeit den Juden lediglich das Metzger- und Fleischergewerbe. | ||
+ | Zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Anm.: Seit 1702 gehörte die zum Fürstentum erhobene Grafschaft Moers zu Preußen) wurde zwanzig jüdischen Familien der Aufenthalt gestattet. Die Obrigkeit achtete streng darauf, daß die Zahl der Juden nicht zu sehr anstieg. So wurde z. B. den erwachsenen Kindern einer Familie oft nicht erlaubt, wie ihre Eltern in Moers zu leben, weil dadurch die Zahl der Juden zu groß wäre.“ (8) „1715 erhalten im Fürstentum Moers zwanzig Familien und deren Gesinde ein Geleit- und Schutzpatent für zwanzig Jahre.“ (9) | ||
+ | Inwieweit das Dorf Homberg von diesen Reglements betroffen war, ist nicht annähernd einzuschätzen. Wenn aber unterstellt werden kann, dass Juden zu diesem Zeitpunkt bereits in Homberg Fuß gefasst hatten, ist, bei Fortbestand einer jüdischen Familie, ein Wechsel in andere Dörfer und Gemeinden wegen der aufgezeigten Bedingungen nur schwer möglich gewesen. | ||
+ | Mit dem Leitgedanken der Französischen Revolution (1789 bis 1798) - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - siegte das Bürgertum über das absolutistische „Ancien Regime“ (10) und schuf damit eine neues Bewusstsein für eine emanzipatorische Gestaltungsfreiheit eines jeden Menschen. Das galt zunächst für Frankreich, griff dann aber sprunghaft auf die Länder Europas über und darüber hinaus. Bereits 1791 waren die französischen Juden durch die Aufhebung aller Judenordnungen und durch das Erlangen der allgemeinen Bürgerrechte emanzipiert. Sie waren freie Bürger geworden. | ||
+ | Als 1801 das Moerser Fürstentum aufgrund der Eroberungen durch Napoleon französisches Staatsgebiet wurde, galten für die hiesigen Juden dieselben Emanzipationsrechte. Allerdings dauerte dieser Zustand nicht lange an. In den ländlichen Gebieten des Bezirks Köln und in den Eifelgegenden klagten unter anderem die Bauern, die Kleinkredite von den Juden nahmen, gegen die „Bewucherung“ durch die in Handelsgeschäften versierten Juden. Bereits 1808 führten die französischen Behörden einige Beschränkungen wieder ein, wie das Hausieren und die Gewerbepatente (Ausübung nur mit Genehmigung). (10a) Nach Napoleons Abdankung und spätere Verbannung erlangte Preußen nach dem Wiener Kongress von 1815 wieder seine Souveränität über die Rheinlande (Rheinprovinz). | ||
+ | Die Rechte der Juden blieben zum Teil eingeschränkt. Erst durch die Preußischen Judengesetze vom 23. Juli 1847 („Gesetz über die Verhältnisse der Juden“) verbesserte sich die Stellung der Juden in Preußen. „Die eigentliche Emanzipation der Juden am Niederrhein wurde endgültig durch das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. 7. 1869 manifestiert. Darin heißt es: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben“.“ (11) | ||
+ | Durch die Reformgesetzgebung des Norddeutschen Bundes war somit jeder Jude ein gleichgestellter Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten gegenüber der Verfassung. | ||
+ | So hatte er z. B. Zugang zu allen Berufen, konnte studieren, besaß das aktive und passive Wahlrecht und musste Dienst mit der Waffe leisten. Damit war der Weg für alle Juden offen, sich in die deutsche Gesellschaft zu „akkulturieren“ (anzupassen), d.h. Deutscher zu werden und Jude zu bleiben. Sie betrachteten sich als Bestandteil der deutschen Nation, während ihre jüdische Identität immer stärker auf den Privatbereich des religiösen Bekenntnisses beschränkt blieb. (12) (lies 12a) | ||
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==== Jüdische Familien in Essenberg und Homberg ==== | ==== Jüdische Familien in Essenberg und Homberg ==== | ||
Version vom 12. November 2016, 10:51 Uhr
Ein Projekt des Freundeskreis Historisches Homberg e.V.
Weshalb wird dieses Projekt konzipiert?
Der Freundeskreis Historisches Homberg e.V. wurde 1985 gegründet, um u.a. „die geistige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gebietes der ehemaligen Stadt Homberg zu pflegen und möglichst vielen Mitbürgern und Interessenten zugänglich“ zu machen. Als Quelle für die nach der Gründung publizierten Aufsätze und Schriften sowie für öffentliche Vorträge über historisch Ereignisse und Entwicklungen in Homberg, Hochheide und Essenberg dienten: die Publikationen der Chronisten der Homberger Stadtgeschichte ( insbes. Mohr, Mast und Thelen), die umfangreichen Sammlungen von Aufsätzen, Urkunden und sonstigen schriftlichen Archivalien und zahlreiche dokumentierte Beiträge von Zeitzeugen. Nach Sichtung und Neuordnung des gesamten Archivs (2013) wurde erschreckenderweise deutlich: Unterlagen, Berichte und Veröffentlichungen über die Barbareien der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter Adolf Hitler in der Zeit von 1933 bis 1945 in Homberg sind im Archiv unseres Vereins nicht existent. Um diesem eklatanten Mangel zu begegnen, hat der Vorstand beschlossen, das Projekt „Homberg unterm Hakenkreuz“ zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für die Projektleitung ist Dirk Lachmann, stellvertr. Vorsitzender, verantwortlich.
Was sieht das pädagogische Konzept vor?
Die Bearbeitung des Projektes ist offen. Das heißt, jeder kann mitmachen. Die Untersuchungen zu diesem Projekt müssen sich im Wesentlichen auf das Gebiet der Stadt Homberg in der Zeit von 1933 bis 1945 beziehen. (Geschichte vor Ort) Die Jugendlichen von heute sind aufgerufen, - ob als Einzelne oder im Klassenverband - nach dem Motto „Jugend forscht“ erste wissenschaftliche Schritte zu erproben. Vor allem aber wird die Mitarbeit der älteren Generation gesucht, die evtl. noch in der Lage ist, als historisch Interessierte authentische Beiträge zu erbringen. Wichtig wären auch Informationen, Fotos und Geschichten aus der eigenen Familie. Auf der Grundlage von über 50 Befragungen von Zeitzeugen aus Homberg, sowie nach dem Studium unterschiedlichster Archiv-Quellen, wurde eine (vorläufige) konzeptionelle Gliederung erarbeitet, die in ihren Gliederungspunkten bereits eine Vielzahl von Informationen, Fakten und Ergebnissen liefert. Das Konzept sieht vor, dass alle Gliederungspunkte im Internet auf einer Informations- und Lernplattform veröffentlicht werden. Mit der Einrichtung der Internet-Plattform soll gezielt darauf abgehoben werden, neue, überprüfbare Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Auf diese Weise generiert die pädagogische Internet-Plattform zur Klammer zwischen Lernenden und Forschenden. Für die Veröffentlichung im Internet müssen natürlich Zugangsvoraussetzungen erfüllt werden: Auskünfte erteilt Dirk Lachmann
„Nicht das Wegsehen, sondern das Hinsehen macht die Seele frei.“ Theodor Litt (Pädagoge, 1880 bis 1962)
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vorwort
- 2 Zur Geschichte der Juden in Homberg bis 1933
- 2.1 Juden in Homberg vor 1900
- 2.2 Von den dörflichen Gemeinden zum Industriestandort Homberg
- 2.3 Zu- und Abwanderungen von Juden in Homberg
- 2.3.1 Zuwanderungen in den 1890er Jahren
- 2.3.2 Zuwanderungen von jüdischen Familien bis 1925
- 2.3.3 Berufsstruktur der jüdischen Zuwanderer
- 2.3.4 Verhältnis zwischen Hombergern und ihren jüdischen Mitbürgern
- 2.3.5 Abwanderung der Juden aus Homberg nach 1925
- 2.3.6 Schließung der Zeche Rheinpreußen leitet Abwanderung ein
- 2.3.7 Zur Frage der Integration der Juden in Deutschland
- 2.4 Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP durch Wahlerfolge
- 3 Zur Geschichte der Juden in Homberg ab 1933
- 4 Nazi-Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- 5 Nachkriegszeit
- 6 Chronologie der Nazi-Diktatur
- 7 Stichwortkatalog
- 8 Quellennachweis
- 9 Anhang
Vorwort
Das „vergessene“ Kapitel der Homberger Stadtgeschichte: Homberg unterm Hakenkreuz 1933 bis 1945
Die Stadthistoriker Paul Mast („Homberg, die Stadt im Grünen“) und Karl Teelen („Blick vom Hebeturm“) haben mit ihren Publikationen wichtige Beiträge zur Stadtgeschichte Hombergs in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts verfasst. Jedoch war es Theodor Mohr vorbehalten, als erster die „Geschichte der Stadt Homberg“ zu erforschen und aufzuschreiben. Das war im Jahr 1967. Obgleich alle drei Chronisten den Aufstieg der NSDAP und die Diktatur Adolf Hitlers als Zeitzeugen miterlebt hatten, blenden sie die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Nationalsozialisten in ihren historischen Studien zur Stadtgeschichte Hombergs total aus.
Die Gräueltaten der Nazis, welche bereits direkt nach dem Ende des 2. WK offengelegt und publiziert worden waren, zeigten unzweifelhaft auf, welche Verbrechen gegen Juden, kranke und behinderte Menschen (Euthanasie), Homosexuelle und Zwangsarbeiter auch in Homberg begangen wurden. Wer diese Tatbestände leugnet oder verdrängt, stellt sich moralisch ins Abseits.
Zur Geschichte der Juden in Homberg bis 1933
Wer über die Anfänge jüdischer Siedler in Homberg (1) berichten will, sieht sich mit einer äußerst begrenzten Quellenlage konfrontiert. Deshalb kann meist nur im Analogieschluss beschrieben werden, wie die gesellschaftspolitische Realität für die Juden in Homberg seit dem 17. Jahrhundert ausgesehen haben könnte. Die Gemeinde Homberg war Teil der Grafschaft Moers (2), die wiederum über Jahrhunderte durch die wechselnde Zugehörigkeit zu Preußen und Frankreich in ihrer Judenpolitik von diesen Staaten abhängig war. Anders verhält es sich mit der Quellenlage über Homberger Juden ab 1900. Hierzu liegen Forschungsergebnisse des Duisburger Stadtarchivs (3) vor, die einen Einblick in Zahl, Herkunft, Familienstand und Beruf der in Homberg sesshaften Juden geben. Die teilweise Erforschung ihrer Schicksale in der Zeit des Nationalsozialismus ist dabei von besonderer Bedeutung. Mit der schicksalhaften Deportation am 11. Dezember 1941 von Homberger Mitbürgern jüdischen Glaubens (Juden) in einem Sammeltransport in ein Konzentrationslager nach Riga/Lettland, wo letztendlich ihre physische Vernichtung stattfand, endet faktisch die Geschichte der Juden in Homberg. Homberg war Ende 1941 nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch „judenfrei“.
Juden in Homberg vor 1900
Von der Regulierung zur Emanzipation
Den bis dato ersten Hinweis über frühe Juden in Homberg gibt es als Anmerkung im „Verwaltungsbericht Homberg - Niederrhein 1901 bis 1909“ (4): Dort heißt es: „Für eine gewisse Bedeutung von Homberg spricht auch die Ansiedlung von Juden, schon im 16. Jahrhundert.“ Aus der Grafenstadt Moers wird von einem konkreten Fall berichtet: „Bereits 1613 hatte die Stadt Moers bei einem jüdischen Mann Geld geliehen, das zur Befestigung der Stadt verwandt wurde.“ (5) Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 war wohl der Religionsfrieden zwischen Protestanten und Katholiken besiegelt worden, jedoch wurde keine einvernehmliche Haltung gegenüber den Juden in Deutschland vereinbart. Die Juden wurden den Landesfürsten unterstellt, die mit oft sehr unterschiedlichen „Judenordnungen“ (Regulierungen) das Zusammenleben in der Stadt und auf dem Land regelten. Dabei war den Landesfürsten der Aspekt der Emanzipation und Integration der Juden in die heimische Gemeinschaft eher fremd. Vielmehr ließen sich weltliche und geistliche Herren, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, davon leiten, ihre fiskalischen Interessen durchzusetzen, indem sie von den Juden den Kauf von immer neuen „Geleitrechten“ (Schutzrechten) verlangten. Die Regulierungen der Landesherren griffen tief in die private Sphäre der Juden ein. Üblich waren Bestimmungen wie: Wahl der Niederlassung, Höhe des Eigenkapitals, Verbot des Erwerbs von Liegenschaften, Zahl der Kinder und vor allem starke Beschränkungen für das Erwerbsleben als Landwirt (Ackerbau), beim Handwerk und im Hausierhandel. (6) (lies 6a) Für die Grafschaft Moers gibt es diesbezüglich folgenden Bericht: (7) „In einem Reglement von 1678 wurde die Zahl der Juden strikt begrenzt. Es hieß, daß nicht mehr als sechs Juden in der Grafschaft Moers leben durften. Von diesen sechs Juden sollten drei in Moers, einer in Krefeld und zwei in Friemersheim und Budberg wohnen. Wenn einer starb, wurde nur ein relativ vermögender Jude an dessen Stelle zugelassen. In beruflicher Hinsicht erlaubte die Obrigkeit den Juden lediglich das Metzger- und Fleischergewerbe. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Anm.: Seit 1702 gehörte die zum Fürstentum erhobene Grafschaft Moers zu Preußen) wurde zwanzig jüdischen Familien der Aufenthalt gestattet. Die Obrigkeit achtete streng darauf, daß die Zahl der Juden nicht zu sehr anstieg. So wurde z. B. den erwachsenen Kindern einer Familie oft nicht erlaubt, wie ihre Eltern in Moers zu leben, weil dadurch die Zahl der Juden zu groß wäre.“ (8) „1715 erhalten im Fürstentum Moers zwanzig Familien und deren Gesinde ein Geleit- und Schutzpatent für zwanzig Jahre.“ (9) Inwieweit das Dorf Homberg von diesen Reglements betroffen war, ist nicht annähernd einzuschätzen. Wenn aber unterstellt werden kann, dass Juden zu diesem Zeitpunkt bereits in Homberg Fuß gefasst hatten, ist, bei Fortbestand einer jüdischen Familie, ein Wechsel in andere Dörfer und Gemeinden wegen der aufgezeigten Bedingungen nur schwer möglich gewesen. Mit dem Leitgedanken der Französischen Revolution (1789 bis 1798) - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - siegte das Bürgertum über das absolutistische „Ancien Regime“ (10) und schuf damit eine neues Bewusstsein für eine emanzipatorische Gestaltungsfreiheit eines jeden Menschen. Das galt zunächst für Frankreich, griff dann aber sprunghaft auf die Länder Europas über und darüber hinaus. Bereits 1791 waren die französischen Juden durch die Aufhebung aller Judenordnungen und durch das Erlangen der allgemeinen Bürgerrechte emanzipiert. Sie waren freie Bürger geworden. Als 1801 das Moerser Fürstentum aufgrund der Eroberungen durch Napoleon französisches Staatsgebiet wurde, galten für die hiesigen Juden dieselben Emanzipationsrechte. Allerdings dauerte dieser Zustand nicht lange an. In den ländlichen Gebieten des Bezirks Köln und in den Eifelgegenden klagten unter anderem die Bauern, die Kleinkredite von den Juden nahmen, gegen die „Bewucherung“ durch die in Handelsgeschäften versierten Juden. Bereits 1808 führten die französischen Behörden einige Beschränkungen wieder ein, wie das Hausieren und die Gewerbepatente (Ausübung nur mit Genehmigung). (10a) Nach Napoleons Abdankung und spätere Verbannung erlangte Preußen nach dem Wiener Kongress von 1815 wieder seine Souveränität über die Rheinlande (Rheinprovinz). Die Rechte der Juden blieben zum Teil eingeschränkt. Erst durch die Preußischen Judengesetze vom 23. Juli 1847 („Gesetz über die Verhältnisse der Juden“) verbesserte sich die Stellung der Juden in Preußen. „Die eigentliche Emanzipation der Juden am Niederrhein wurde endgültig durch das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. 7. 1869 manifestiert. Darin heißt es: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben“.“ (11) Durch die Reformgesetzgebung des Norddeutschen Bundes war somit jeder Jude ein gleichgestellter Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten gegenüber der Verfassung. So hatte er z. B. Zugang zu allen Berufen, konnte studieren, besaß das aktive und passive Wahlrecht und musste Dienst mit der Waffe leisten. Damit war der Weg für alle Juden offen, sich in die deutsche Gesellschaft zu „akkulturieren“ (anzupassen), d.h. Deutscher zu werden und Jude zu bleiben. Sie betrachteten sich als Bestandteil der deutschen Nation, während ihre jüdische Identität immer stärker auf den Privatbereich des religiösen Bekenntnisses beschränkt blieb. (12) (lies 12a)